Faschingsfeste ohne Künstler sind fad, Isadora Duncan tanzt barfuß, und die Blauen Reiter finden ein neues Zuhause, bei Hans Goltz im Luitpoldblock.
Um 1900 ist München, das nunmehr 500 000 Einwohner hat, die führende Kunststadt in Deutschland. Zur Königlichen Akademie, die bereits 1808 ihre Arbeit aufgenommen hat, kommen viele private Malschulen hinzu, seit 1884 gibt es die Damenakademie des Künstlerinnen-Vereins. Doch die vielen Kreativen sind nicht nur Teil der städtischen Kultur, die Höhepunkte des gesellschaftlichen Lebens sind ohne sie undenkbar. Und zu den Höhepunkten zählt der Fasching: „Man fuhr nach München zum Fasching, wie man im Februar nach Cannes fuhr … very stylish und vollkommen de saison. Man kam in eine Luft angenehmer Verrücktheit“, berichtet der expressionistische Schriftsteller Kasimir Edschmid über die Faschingsfeste in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Immer, wenn es ans Feiern geht, laufen die Kreativen der Stadt zur Höchstform auf. Die Schwabinger Künstlerfeste und Mottopartys sind legendär. „Was wäre der … Fasching ohne die Mitwirkung der Münchner Künstler? Die zahlreichen Künstlervereinigungen wetteiferten in der Gestaltung überschäumender Feste. Die Plakate, Erinnerungsplaketten, Einladungskarten und Festpostkarten für die Künstlerfeste wurden von den bekanntesten Künstlern gestaltet“, resümiert der Münchner Turmschreiber Ludwig Hollweck. Der Archäologe Ludwig Curtius etwa verkleidet sich 1903 sagenhaft: „Es war ein griechisches Fest. Die Idee stammte von Lenbach … Wir entschieden uns nach dem berühmten Bilde einer griechischen Vase des rotfigurigen Stils in Berlin, Orpheus und die Thraker darzustellen.“
Im Bayerischen Hof gibt es elegante Festbälle. Beim vornehmen bal paré im Deutschen Theater werden moderne Tänze aufs Parkett gelegt: Tango, Boston, Onestep. Auch im Luitpold feiert man rauschende Feste.
München ist aufgeschlossen: Die Stadt gehört zu den Stationen, an denen die skandal- umwitterte „Barfußtänzerin“ Isadora Duncan 1902 ihre ersten großen solistischen Bühnenerfolge feiert. Auch moderne Kunst ist hier willkommen. Zahlreiche große Schauen wie im Glaspalast präsentieren die zeitgenössische Kunst, so die Werke der 1892 ins Leben gerufenen Münchner Sezession. Hans Konrad Röthel, Direktor der Münchner Städtischen Galerie, beschreibt die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg so: „Die gärende Atmosphäre Münchens in den neunziger Jahren lockte die kunstbeflissene Jugend von Chicago bis Moskau an die Ufer der Isar. 1896 kam Jawlensky mit Marianna von Werefkin, 1897 Kandinsky; sie studierten bei Ažbe. 1898 trafen Kubin und Klee ein.“
Im Jahr 1909 gründen Marianne Werefkin, Alexej Jawlensky, Adolf Erbslöh, Wassily Kandinsky, seine damalige Lebensgefährtin Gabriele Münter und andere die „Neue Künstlervereinigung München“. Auch sie wollen sich abgrenzen, diesmal sind es die eher impressionistischen Sezessionisten, von denen man sich distanziert. Ihre erste Ausstellung findet Ende desselben Jahres in der von Heinrich Thannhauser im Arco-Palais in der Theatinerstraße 7 neu eingerichteten Galerie statt. Die Ausstellung stößt auf heftige Kritik. So schreiben die Münchener Neuesten Nachrichten: „Entweder ist die Mehrheit der Mitglieder dieser Vereinigung unheilbar geisteskrank, oder wir haben es mit einer Gruppe von skrupellosen Hochstaplern zu tun, die bestens um die Schwäche unserer Zeitgenossen für Sensationen wissen und versuchen, diese große Nachfrage zu nutzen.“
Nur Malerkollege Franz Marc zollt Anerkennung und wird daraufhin prompt in den Vorstand der Vereinigung berufen. Doch die Harmonie währt nicht lange. Nachdem die Kollegen, denen Kandinsky in seiner zunehmenden Abstraktion zu weit geht – 1910 hat er das erste vollkommen abstrakte Bild gemalt, ein Aquarell – es ablehnen, seine „Komposition V“ in der Winterausstellung der Vereinigung zu zeigen, kommt es zum Bruch. Am 18. Dezember 1911 eröffnen Kandinsky, Marc, Münter und paar weitere Überläufer ihre eigene Ausstellung mit etwa fünfzig Bildern, ebenfalls in der Galerie Thannhauser. Der Coup ist von langer Hand vorbereitet. Schon seit Monaten arbeiten sie heimlich an dem Kunst-Almanach „Der Blaue Reiter“. Und die Redaktion des Jahrbuchs firmiert jetzt als Veranstalter der Gegenausstellung. Wie es dem gesamtkunstwerklichen Ansatz des „Blauen Reiters“ entspricht, sind auch moderne Musiker mit von der Partie: Alban Berg, Arnold Schönberg und Anton von Webern.
Der ersten Ausstellung lassen Kandinsky und Marc im Februar 1912 eine zweite folgen. Sie trägt den programmatischen Titel „Schwarz-Weiß“ und zeigt ausschließlich Arbeiten auf Papier, mehr als 300 Aquarelle, Radierungen, Zeichnungen und Holzschnitte, unter anderem von Hans Arp, Georges Braque, André Derain, Paul Klee, Alfred Kubin, Kasimir Malewitsch, Pablo Picasso und den Brücke-Künstlern Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Max Pechstein – und natürlich von Marc, Macke und Kandinsky. Die- se Ausstellung findet im ersten Stock der Münchner Buch- und Kunsthandlung Hans Goltz in der Brienner Straße 8 im Luitpoldblock statt, gleich neben dem Café.
Hans Goltz, der seit 1904 in München lebt, hat 1911 die Buchhandlung Putze im Luitpoldblock übernommen. Der ausgebildete Buchhändler wird hier in den kommenden zwei Jahrzehnten ein bedeutendes Zentrum der avantgardistischen Kunst etablieren. In mehr als 180 Ausstellungen – 1912 kommt noch seine Galerie „Neue Kunst – Hans Goltz“ ganz in der Nähe am Odeonsplatz 1 hinzu – macht er Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Kunsthandwerk des Fauvismus, des Kubismus, des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit bekannt. Er ist Generalvertreter von Künstlern wie Heinrich Maria Davringhausen, George Grosz und Klee, der 1920 über ihn bemerkt: „Goltz arbeitet bisher sehr gut.“ Der Galerist zeigt erstmals außerhalb Österreichs Arbeiten von Egon Schiele. Und er organisiert Lesungen und Vorträge über neue Literatur. Else Lasker-Schüler ist 1915 zu Gast, ein Jahr später liest Franz Kafka, der überhaupt nur zweimal vor Publikum auftrat, eine nach eigenem Bekunden „schmutzige Geschichte“ vor. Der Schweizer Dichter Max Pulver erinnert sich: „Kafka saß auf einer Rampe am Vortragspult, schattenhaft, dunkelhaarig, bleich, eine Gestalt, die ihre Verlegenheit über ihre eigene Erscheinung nicht wirklich zu bannen wusste.“
Für schmutzig und skandalös halten auch immer wieder brave Münchner das, was der Galerist Goltz an der Brienner Straße treibt. Denn längst hat sich die Stimmung in der Stadt gewandelt, aus Aufgeschlossenheit wird Intoleranz, und ungute Zeiten kündigen sich an. Zeitungsreporter berichten mehr als einmal von Zeitgenossen, die sich vor der Buchhandlung empören und gar die Polizei rufen angesichts des Unglaublichen, das es bei Goltz zu sehen gibt. Auf der einen Seite die Avantgardisten, auf der anderen die Rückwärtsgewandten. Die Tirade im Völkischen Beobachter vom 29. März 1923 ist an Drastik kaum zu überbieten: „Seit zehn Jahren wütet eine eigenartige Geistesseuche in unserer Stadt, Neue Kunst, Expressionismus, von uns Kunstpest genannt. … Dabei ist erfreulich, dass diese Pest … sich in Abszessen sammelte, die man nur aufzuschneiden braucht. So ein Abszess ist die Kunsthandlung ,Goltz‘.“ Der Galerist gerät wirtschaftlich und gesellschaftlich zunehmend unter Druck. 1928 zieht das Geschäft in die Brienner Straße 55 um. Doch das erlebt Goltz nicht mehr. Er stirbt 1927.
*Aus: Das Luitpold. Münchner Kaffeehauskultur seit 1888. Erstaunliche Geschichten und erlesene Rezepte, Luitpold Promotion GmbH, 2012, S. 214-221