Das Archiv sind sie, sind wir, bin ich! Oder: Wie wird aus gestern und heute morgen?

Christof Salzmanns archivalische Intervention für eine Schaufensterfront im Palmengarten „Das Archiv sind sie, sind wir, bin ich! Oder: Wie wird aus gestern und heute morgen?“ ist seit 2017 zu sehen.

Museum und Archiv sind zwei durchaus unterschiedliche Dinge. Sie finden den Eingang zum Museum Cafe Luitpold zu ihrer Linken. Er führt Sie in die erste Etage und dort zurück in eine Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende, eine Zeit, die man heute Gründerzeit nennt. Die Scheiben, vor denen Sie stehen, verwehren Ihnen zwar den gewohnten Einblick in dahinter liegende Räume, gewähren Ihnen aber dafür einen – wenn auch kleinen – Einblick in das Archiv des Luitpoldblocks. Sie sehen Texte, Materialien, vor allem aber Fotografien aus einem Archiv, das die gesamte Geschichte des Luitpoldblocks zum Gegenstand hat. Dieses Archiv ist aktuell in zwei Keller- und zwei Büroräumen untergebracht. Christof Salzmann hat mehrere nicht archivarische Blicke in dieses Archiv geworfen. Ein erstes Ergebnis zeigt sich Ihnen hier. Es ist ein künstlerischer, ein spielerischer Blick, was nicht verwundert, denn Salzmann ist Künstler und nicht Archivar. Vielleicht auch deshalb muss seine Auswahl mit einem ebenso spielerisch-witzigen wie hintersinnigen Text von Loriot über das Cafe Luitpold beginnen.

Der künstlerische Blick auf und in ein Archiv bietet neue und ungewöhnliche Möglichkeiten. Die ausgewählten Fundstücke können aus strenger archivarischer Perspektive eher unbedeutend sein; aus künstlerischer Perspektive sind sie durchaus aufregende Entdeckungen. Während der klassische Archivar das Fundstück unter historischer und/oder juristischer Perspektive (der Ursprung des Archivwesens liegt in der Rechtssprechung) betrachtet und bewertet, so nimmt der Künstler unterschiedliche Betrachtungspunkte ein, um Beziehungen zwischen Archivmaterialien und zeitaktueller ‚Umwelt‘ abzubilden. Künstlerische Perspektiven und Betrachtungsweisen sind z. B. narrative Zugänge, visuelle Irritationen, ästhetische Merkmale, strukturelle und konzeptionelle Grundlagen, mystische Dimensionen, faktische Widersprüche, emotionale Phänomene und vieles mehr. Diese anderen Zugänge und Potentiale sind – nicht nur – für eine Arbeit mit einem Archiv grundlegend, um auf diese Weise aus einem statischen Archivköper einen dynamischen Archivprozess zu entwickeln.

Das Bild unter dem Loriot-Text zeigt eine Kopie des provisorischen ›Chef-Büros‹. Das Bild birgt eine Geschichte. Wahrscheinlich bezieht sich das ‚Provisorium‘ auf die örtliche Situation. Man kann den Begriff ‚provisorisch‘ z. B. als ‚Zwischenzeitraum‘ lesen und sich fragen: Wie lebt und denkt es sich in einem Provisorium? Wodurch unterscheidet sich das Arbeiten im räumlichen und örtlichen ‚Dazwischen‘ von fest etablierten Orten? Welche Vor- und Nachteile bietet ein ‚Provosorium‘? Wonach sehnt man sich im ‚Zwischenzeitraum‘? Die Fensterscheibe links zeigt eine Ansammlung von alten Münchner Kinokarten und den Eingang zum Lichtspiel Luitpold. Sie erinnert so an die große cineastische Tradition des Luitpoldblocks, denn das Lichtspiel war von den 1920er bis zu den 1970er Jahren das größte Kino der Stadt. Marlon Brando oder Sophia Loren gaben hier ihre Deutschlandpremieren. Ein Haus wie der Luitpoldblock mit seinen mehr als zwanzigtausend Quadratmetern Fläche ist in einer ständigen Bewegung. Von daher wurden und werden die Blicke immer wieder einmal gestört durch Bauzäune. Salzmann zeigt uns rechts Bauzäune aus zwei unterschiedlichen Zeiten. Auf den beiden Farbbildern sehen sie ein Beispiel aus dem Jahr 2016. Die von der Eigentümerfamilie des Luitpoldblocks gegründete Stiftung Federkiel hatte den Schweizer Künstler Beat Streuli eingeladen, den 23 Meter langen Bauzaun auf dem Maximiliansplatz mit einer Foto-Installation zu bespielen. Streulis Arbeit wurde für vier Monate zu einer ebenso leichten wie irritierenden, ja störenden Intervention auf dem ›Platz der Opfer‹.

Weiter rechts dann zwei Fahrzeuge wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und doch mit gleichem Erscheinungsbild: einem Ornament aus weiß-braun ineinander geschachtelten L-Formen. Der alte VW-Bus ›Cafe Luitpold Grill Confiserie‹ lieferte in den ausgehenden 1950er Jahren die entsprechenden Waren des Hauses an und ab; der BMW i3 steht als Elektro-Car-Sharing-Auto den Mietern des Luitpoldblocks zur Verfügung. Seine Ladestation im Hof wird mit Strom aus einer auf dem Dach installierten Photovoltaikanlage versorgt, die darüber hinaus auch Mieterstrom produziert. Beides entspringt einer Kooperation mit dem Ökostromanbieter ›Polarstern‹. Die Scheibe recht außen zeigt dann Bilder aus dem ›Grillroom‹ der frühen 1960er Jahre. Auch das war einmal das Cafe Luitpold. Ein cooler, ganz dem damaligen Zeitgeist verpflichteter Ort des gastronomisch-konzeptuellen Experiments. Eines der auf den S/W-Bildern zu sehenden großen Blumenbouquets, hat Christof Salzmann von den Floristen bei ›Flor&Decor‹ nachgestalten lassen, es neu fotografiert und hier als Reminiszenz auf eine andere Form der Opulenz gesetzt.