Im Luitpoldblock eröffnet Münchens größtes Kino. Klaus Mann beobachtet den großen Diktator, wie er Törtchen verschlingt. Doch weil dessen Hunger weit darüber hinausgeht, liegt die Stadt bald in Trümmern.
1929 wird das Luitpold wieder modernisiert. Der neue Besitzer, Alexander Schalk, lässt ein Kino einbauen, das seinerzeit das größte in München ist. Dafür muss das eben erst eingerichtete Tabarin weichen; der Billardsaal wird verlegt. Der Zuschauerraum ist 34 Meter lang, 20 Meter breit und nimmt bei einer Höhe von zehn Metern zwei Etagen ein. Rot und Gold sind die vorherrschenden Farben, expressionistische Malerei ziert die Wände. Das Kino verfügt über 1368 Sitzplätze, eine hochmoderne Tonfilmapparatur – und eine Wurlitzer-Orgel. Schließlich gibt es ja noch Stummfilme; sie kommen weltweit erst Mitte der 1930er-Jahre endgültig aus der Mode. Und mit einem Stummfilm eröffnen die Luitpold-Lichtspiele im November 1929. Als Ouvertüre läuft, zu Demonstrationszwecken, Beethoven auf der Tonfilmspur. Schon zehn Tage später wird der erste echte Sprechfilm gezeigt, „Atlantik“.
Doch schon bald flimmern Propagandafilme über die Leinwand, etwa während der „Reichs-Kulturfilmwoche“ 1941. Die „Schau der besten deutschen Werke“, wie die Münchner Neuesten Nachrichten schreiben, hat Streifen im Angebot zu Themen wie „Deutsches Land und deutsche Wehr“, „Fliegerei“, „Heimat und Ferne“, „Gesundes Volk“.
Dazu passt, dass randalierende Nazis eine Zigeunerkapelle, die im Luitpold spielt, tätlich angreifen. Das Pöbelpublikum fühlt sich wohler bei Auftritten der „Totenkopfhusaren“ und der Berliner SA-Kapelle, die ebenfalls dort gastieren.
Im Café ist längst nicht mehr jeder willkommen. Ein jüdischer Junge erinnert sich, wie seine Eltern, passionierte Kaffeehausgänger, nicht nur Hausverbot im Café Viktoria am Maxmonument erhielten: „Es wäre ihnen sehr recht, wenn wir nicht mehr kommen würden“, hieß es da. Und: „Ganz ähnlich war es im Café Luitpold.“
Aber es gibt auch ehemalige Stammgäste wie den Schriftsteller Klaus Mann, die dem Luitpold schon früh und aus freien Stücken den Rücken kehren. Er schreibt über eine zufällige Begegnung mit Adolf Hitler: „Ich hatte wiederholt Gelegenheit, seine Physiognomie zu studieren. Einmal aus nächster Nähe, etwa eine halbe Stunde lang. Das war 1932 … Die Carlton-Teestube in München war damals eines seiner Stammlokale. Ich entschied mich für dieses Lokal, weil das Café Luitpold – gerade gegenüber, auf der anderen Seite der Brienner Straße – neuerdings zum Treffpunkt der SA und SS geworden war: Ein anständiger Mensch verkehrte dort nicht mehr. Der Führer, wie sich nun herausstellte, teilte meine Aversion gegen seine tapferen Mannen; auch er bevorzugte die Intimität des distinguierten ,Tea-Room‘.“ Der Sohn des Nobelpreisträgers beobachtet, wie Hitler „ein Erdbeertörtchen mit Schlagrahm“ nach dem anderen verspeist. Dabei stellt er erstaunt fest, wie ähnlich der Führer seinem späteren Parodisten Charlie Chap- lin sehe – „Der große Diktator“ wird acht Jahre nach dieser Begegnung uraufgeführt. Aber er macht auch deutliche Abstriche: „Chaplin hat Charme, Anmut, Geist, Intensität – Eigenschaften, von denen bei meinem schlagrahmschmatzenden Nachbarn durchaus nichts zu bemerken war.“
Klaus Mann hat den aufstrebenden Diktator da noch nicht ernst genommen. Das wird sich bald ändern. Und der Ernst der politischen Situation wird auch rasch im Stadtbild sichtbar. Das Wittelsbacher Palais liegt ganz in der Nähe. Einst Alterssitz von König Ludwig I., wird es 1933 zum Hauptquartier der Gestapo. Drei Jahre später wird die Brienner Straße in Adolf-Hitler-Straße umbenannt. Sie dient den Nationalsozialisten jetzt als Aufmarschpiste von der Feldherrenhalle Richtung Königsplatz. 1937 eröffnet die berühmt-berüchtigte Ausstellung „Entartete Kunst“ in den Hofgartenarkaden, 1938 wird die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße zerstört. Ein Jahr später wird Verdunklung angeordnet – es ist das Jahr, in dem das Attentat auf Hitler im Bürgerbräukeller misslingt. Lebensmittelkarten werden ausgeteilt. 1940 kommt es erstmals zu Fliegerangriffen; die Münchner müssen elfmal in die Luftschutzkeller. Schwere Luftangriffe im Jahr 1942 fordern Todesopfer. Am 28. August 1942 fallen auch Bomben auf den Luitpoldblock. Im Frühjahr 1944 wird das Bauwerk erneut schwer getroffen. Nach dem 45-minütigen Bombardement in der Nacht vom 18. Dezember 1944 gehen die Lichter endgültig aus: Achtzig Prozent des Luitpoldblocks liegen in Trümmern.
Dasselbe gilt für die gesamte Altstadt. Alles in allem sind bei Kriegsende 45 Prozent der Bausubstanz im Stadtgebiet zerstört. Mehr als 100 000 Menschen sind obdachlos. Nur noch die Hälfte des Münchner Verkehrsnetzes ist zusammenhängend befahrbar. Der Hauptbahnhof ist zu 73 Prozent zerstört. Die Ernährungssituation ist katastrophal und wird es bis 1948 bleiben.
Doch schon bald nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen am 30. April 1945 beginnt das große Aufräumen. 7,5 Millionen Kubikmeter Schutt müssen weg. Als Max Frisch Ostern 1946 in München weilt, „waren die Aufräumarbeiten bereits in vollem Gange … Die Versorgungslage war katastrophal; in dem Unrat allerorts hatte sich eine Rattenplage ausgebreitet. Überall wurden Rohstoffe gesammelt. Es gab eine Lumpensammelaktion, und es gab eine Knochensammelaktion. Für 5 Kg Sammelknochen erhielt man 1 Stck. Kernseife zum Preis von 11 Pfg. In der anhaltenden Hungersnot mussten die Nahrungsrationen von 1550 auf 1275 Kalorien pro Tag reduziert werden.“
Bereits am 7. Mai 1946 kann der Stadtrat verkünden, dass 18 000 Kubikmeter Schutt beseitigt worden seien; 400 000 Ziegelsteine und 100 Tonnen Eisenträger habe man aussortiert. Gegen Ende 1953 sind die Räumungen weitgehend abgeschlossen. Der Alte Peter ist wiederaufgebaut. Auf der Wiesn wird schon seit 1950 wieder Bier getrunken.
Und die gute alte Kaffeehauskultur? Ein historisches Foto zeigt eine improvisierte Gaststätte unter freiem Himmel. Vor der Trümmerkulisse einst prächtiger Bürgerhäuser bedienen ein Ober mit Fliege und Kellnerjacke sowie ein Kuchenfräulein mit weißer Schürze ihre Gäste an sauber eingedeckten Tischen. Das Foto ist ein beeindruckendes Zeugnis des Hungers nach Kultur und Lebensstil, der sich rasch neben dem echten Hunger einstellt. Und eine traurige Erinnerung an bessere Zeiten: Im Jahr 1930 hatte das erste Boulevardcafé in München eröffnet. Das Luitpold hatte die städtische Genehmigung erhalten, auf dem Bürgersteig Tische, Stühle und Palmen aufzustellen, ganz so, als sei man in Nizza oder Cannes. Wie anders sind jetzt die Vorzeichen.
Trotz der massiven Schäden geht auch der Betrieb des Café Luitpold zunächst weiter. In den Kellerräumen kann man noch immer an Marmortischen sitzen. Niemand stört sich an den Heizungsrohren. Doch der Versuch, 1948 ein bürgerliches Restaurant in der Ruine zu etablieren, scheitert.
Aber das Kino hat Glück gehabt. Die Bomben haben nur den Eingangsbereich erwischt, der Zuschauerraum bleibt relativ unversehrt. Und da die amerikanischen Besatzer bereits im September 1945 eine Spiellizenz erteilen, kann der Betrieb weitergehen. Lonny van Laak, Grande Dame der Münchner Filmszene, holt Weltstars zu den Premieren in ihr Kino, darunter Sophia Loren, Gina Lollobrigida, Kirk Douglas, Joseph Cotten, Ingrid Bergmann und Maximilian Schell. Erst 1974, in der Zeit des großen Kinosterbens in Deutschland, müssen auch die Luitpold-Lichtspiele aufgeben.
*Aus: Das Luitpold. Münchner Kaffeehauskultur seit 1888. Erstaunliche Geschichten und erlesene Rezepte, Luitpold Promotion GmbH, 2012, S. 260-269